Reifepotential als Maßstab für Qualität?
Weinwissen
März 8, 2017

Reifepotential als Maßstab für Qualität?

Die schönsten, häufigsten und besten Erfahrungen mit gereiften Weinen hat École du Vin Tutorin Lidwina Weh bei Bordeaux gemacht. Aber was genau ist so reizvoll daran, reife Weine zu trinken? Hier erfahrt ihr alles, was es über die Reife von Weinen zu wissen gibt. 
Einen Wein zu probieren, der älter ist als jemand selbst, bringt eine gewisse Magie mit sich. 

Zudem hat nicht jeder Wein das Zeug zum alt werden: ein Herausstellungsmerkmal also. Jene, die es aber mitbringen, durchlaufen verschieden Entwicklungsstadien. In der Jungend sind sich Rotweine häufig ähnlich, da sie durch ihre Primärfrucht intensiv an rote – und schwarze Beeren erinnern. Wenn diese jugendlichen Aromen aber sprichwörtlich die Bühne geräumt haben, tritt die nächste Generation an Aromen an die Oberfläche – ins Rampenlicht. Aromen die man nur kennen lernen kann, wenn man etwas Geduld mitbringt, die Flasche nicht gierig in den ersten Jahren austrinkt. Aber wie gesagt, der Wein muss auch ein gewisses Reifepotential mit sich bringen, nicht alles wird automatisch besser.

Nun werde ich an Weinproben sehr oft gefragt, wie lange man die Flasche noch lagern könne.

Je länger ich vorher sage, umso höher schätzt man den Wert des Weines ein. Denn von den großen Weinen der Welt – vor allem von Bordeaux – weiß man, dass diese sich besonders gut in der Flasche halten. Also ein gutes Zeichen?Viele wundern sich aber auch, wenn ein Wein in seiner Jugend gleich besonders gut schmeckt – so fertig-, so appetitlich-, so zugänglich ist. Das passiert bei besonders guten Jahrgängen, bei denen die Reife des Traubengutes perfekt war. Wie kann es sein, dass diese dennoch ein ordentliches Reifepotential mitbringen? Weine, die in der Jugend harmonisch und ausgeglichen sind, werden es Jahre später auch noch sein. Habe ich jedoch bereits am Anfang das Gefühl, die Säure, oder das Tannin passt nicht, wird es im Alter nicht wesentlich harmonischer werden.

Nun hat sich in der Rotweinwelt aber auch vieles getan.

Von der Klimaerwärmung hat die Reife der roten Trauben profitiert. Das heißt, weniger Säure, weicheres Tannin, bessere Farbe und mehr Zucker. Im Qualitätsweinbau haben sich niedrigere Erträge durchgesetzt, Trauben werden wesentlich schonender verarbeitet, man spricht vom Tannin-Management. Die Reifezeit auf der Maische und im Holzfass ist angepasst und der Schwefeleinsatz – also auch die Haltbarmachung – ist kontrollierter als noch vor 50 Jahren. All dies sind Gründe, weshalb Rotwein heute in der Jugend wesentlich besser schmeckt, als die Weine es taten, zur Mitte des 20. Jahrhunderts.

„Bordeaux ist so gut wie noch nie!“

Daraus schließt sich auch, dass ich nicht mehr 40 Jahre warten muss, damit der Wein zugänglich wird. Das ist doch viel praktischer und entspricht eher der modernen Vorratshaltung!Zudem weiß ich auch nicht, wie mein Geschmack in 40 Jahren sein wird? Darf ich dann noch Wein trinken oder liegt die Pillendose oberhalb von meinem Hauptgangmesser?

Schau ich zurück, stelle ich fest, dass ich vor 20 Jahren auch noch ganz andere Dinge getrunken habe. Und wenn ich Pech habe, dann entwickelt sich der Wein in eine Richtung – mein Geschmack sich aber in eine völlig andere  – und sie werden nie wieder zueinander finden.

Jedoch muss jeder für sich selbst herausfinden, welche Aromen im Wein er schätzt. Ganz viele kommen mit den würzigen, leicht erdigen, an Jutesack erinnernden, entwickelten Aromen reifer Weine weniger zurecht. Sie bevorzugen die kraftvollen, jungen Weine, die mit klarem Duft von Kirsche, Cassis und Brombeere, dazu etwas Rauch und Vanille faszinieren. Und dann ist es doch egal, welches Reifepotential der Wein mitbringt. Viel wichtiger scheint es mir, den richtigen Augenblick für eine Flasche Wein zu wählen, ganz nach eigenem Geschmack.

Und ehrlich, lieber mal eine Flasche zu jung getrunken – als zu lange gewartet.

Zum Schluss aber noch ein kleiner Tipp der helfen soll, das Potential richtig einzuschätzen. Dazu empfehle ich immer einen Blick zurück zu werfen. Wie viele Jahre ist der Wein schon gereift? In welchem Stadium befindet er sich jetzt? Ist er immer noch jung, ist er perfekt oder wird er bereits schon etwas dünn? Schafft er die gleiche Zeit nochmal – oder sogar noch etwas mehr? Oder schmeckt er jetzt so gut, dass ich am liebsten morgen gleich die nächste Flasche trinke? Und zuletzt ist es beim Wein wie bei einer guten Freundschaft. Dort muss ich auch immer wieder einmal vorbei gehen, um hallo zu sagen, zum Diskutieren: Komme ich erst nach 20 Jahren wieder, hat man sich vielleicht nicht mehr viel zu sagen.  

Von: Lidwina Weh

Lidwina Weh leitet heute eine Weinschule in der Schweiz und gibt als Tutorin der École du Vin de Bordeaux Kurse, Seminare und begleitet kulinarische Anlässe. Der Wein zog sich wie ein „roter Faden“ durch ihr Leben: In privat geführten Restaurants bis hin zur Luxushotellerie und Bars hat sie als Sommelière und Weinakademikerin Weine empfohlen und kombiniert, verkostet, eingekauft und entschieden, was auf die Getränkekarte kommt. Ihre Liebe zu Bordeaux-Wein entdeckte sie zum einen bei einer Raritätenprobe als Jung-Sommelière und bei ihrem Einblick in die Weinlese auf dem Château Mouton Rothschild. 

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